Mein Bruder wohnte zu der Zeit auf einem Segelboot im Hafen von New York. Sein Boot lag in der Liberty Landing Marina, auf der anderen Seite des Hudson, gegenüber des World Financial Center, Downtown Manhattan. Für eine Woche wollte ich ihn auf seinem Boot besuchen. Wir wollten segeln. Ich wollte in Manhattan einkaufen, die Zeit, das gute Wetter, den warmen Spätsommer genießen. Die Aussichten waren blendend.
Freitag am späten Nachmittag holte er mich vom Flughafen ab, Freitag, 7. September 2001. Am Wochenende segelten wir; vorbei an Manhattan und der Freiheitsstatue, unter der Verrezano Brücke durch bis auf den offenen Ozean. Bis zu Ambrose Lighthouse wollten wir, dem Punkt, an dem auf der amerikanischen Seite die Zeit für das Blaue Band genommen wird, der schnellsten Atlantiküberquerung eines Passagierschiffes.
Sonntagnachmittag begegneten uns die auslaufenden Kreuzfahrtschiffe auf ihrem Weg von New York zu den Bermudas, große, weiße Schiffe. Abends fuhren wir durch den dunkel werdenden Hafen, ganz nah an Manhattan heran, an den leuchtenden Hochhäusern vorbei am World Financial Center und dem passenden Yachthafen, elegante Boote, teure Boote, manche mit Hubschrauber auf dem Achterdeck.
Am Montag frühstückte ich mit meinem Bruder. 10. September. Er fuhr zur Arbeit. Ich blieb den ganzen Tag auf dem Boot, lag in der Hängematte zwischen Mast und Vorsegel. Kochte, aß, dann Siesta unter Deck. Ein Tag der Muße, eine Erholung von der Arbeit, eine Pause im Leben.
Auch am Dienstag wachte ich früh auf, vor sieben. Mit meinem Ex-Stiefbruder, Steve, der Sohn des ehemaligen zweiten Mannes meiner Mutter, wollte ich mich in Manhattan treffen. Wir hatten Zeit und Ort noch nicht ausgemacht, waren verabredet, bis spätestens gegen 10:00 Uhr zu telefonieren. Mit meinem Bruder frühstückte ich im Heck des Bootes mit Blick auf Manhattan. Der Morgen war ruhig, das Wetter versprach heiß und ausgezeichnet zu werden. Die Sonne ging genau zwischen den Twin Tower über Manhattan auf.
Als mein Bruder zur Arbeit gefahren war, setzte ich mich mit einem Buch auf Deck, bis die Sonne zu stark wurde. Dann ging ich in die Kajüte, vielleicht war es viertel nach acht, legte mich mit dem Buch so auf das Bett, dass ich durch die Decksluke den blauen Himmel sehen konnte. Das Boot schaukelte leicht; ich las ein wenig und schlummerte kurz.
Das Telefon klingelte, es war kurz nach neun. Steve und ich plauderten, machten Pläne für den Tag. Er erklärte mir, wo wir uns treffen könnten, welche Linie ich nehmen sollte. Ich wollte eine Zigarette rauchen, kletterte auf Deck.
Zuerst sah ich eine Wolke im Süden, eigenartig grade, wie eine liegende Zigarre, drehte meinen Kopf, sah, dass sie bei den World Trade Centern endete, verstand, dass sie dort begann. Und sagte zu Steve: “Die Tower brennen“. Dann sah ich, wie auf den anderen Booten die Menschen nach Manhattan hinüberblickten. Das Pärchen auf einem benachbarten Boot hatte einen Fernseher. Sie sagten, Terroristen mit Flugzeugen, ein Anschlag, kein Unfall, beide Türme getroffen. Steve habe ich in diesem Sommer nicht mehr gesehen.
Die Twin Tower qualmten, hinter einigen Fenstern schien es zu brennen. Teile der Fassade fielen hinunter. Ich holte die Kamera und begann zu fotografieren. Der Himmel strahlend blau.
Dunkel und böse grollend brach der Südturm in sich zusammen, implodierte; der Kollaps dauerte an. Als er abebbte drückte sich eine Wolke aus den Straßen heraus, bedeckte die umgebenden Häuser, verhüllte den unteren Teil von Manhattan. Fassungslosigkeit breitete sich aus. Der Südturm war verschwunden. Der Nordturm stand alleine in einer Wolke aus Staub, Stahl und Rauch.
Mein Vater rief aus Deutschland an, fragte, wie es mir ginge, wo ich sei. Ich sagte zu ihm: „Der eine Turm ist weg, einfach weg“. Er sagte: „Auch das Pentagon ist getroffen; vielleicht noch mehr. Ein Flugzeug wurde abgeschossen in Pennsylvania“. Der Nordturm stand. Qualmend. Die Situation schien sich zu entspannen.
Laut, dumpf, bösartig und langsam sackte das Gebäude in sich zusammen. Eine Rauchsäule zeichnete die Silhouette in den Himmel. Dann verschlang die Wolke Manhattan und bedeckte die Sonne. Die Insel verschwand und nahm das 20ste Jahrhundert mit.
Eine stete Brise Nordwind drückte Staub und Qualm aus den Straßen nach Süden in den Hafen von New York. Ganz allmählich zeigte die Skyline ihre neuen Konturen.
Am späten Nachmittag, und für mich nicht mehr hörbar, kollabierte auch ein dritter Tower, WTC 7, ein Hochhaus mit 47 Stockwerken, allerdings ohne eine wirklich fühlbare Lücke zu hinterlassen. Die Twin Tower hatten die Skyline dominiert. Alle anderen Häuser sind hoch, aber kein Vergleich, keine Wolkenkratzer.
Der Himmel war wolkenlos. Die Sonne ging unter, tauchte Manhattan in goldenes und rötliches Licht und hinterließ tief erschöpfte Ratlosigkeit, zornige Trauer, Verzweiflung.
Mein Bruder kam spät zurück, die Straßen waren verstopft, Staus und Kontrollen. Das Fernsehen brachte fortlaufend Berichte, Gespräche, Spekulationen und bald auch Namen von Tätern und Vermutungen über Motive, über die Zahl der Opfer, die Konsequenzen. Etwas hatte aufgehört, keiner wußte, was begonnen hatte, was geschehen würde.
Auch am Mittwoch waren wir früh wach. Der Himmel am 12. September war wolkenlos. Rauch und Qualm hatten sich etwas gesenkt über der Stadt und verdunkelten die aufgehende Sonne. Mittags drehte der Wind und kurz wehte Geruch von verschmorten Kabeln, Plastik und Beton über das Wasser. Dann zog der Qualm stadtaufwärts.
Ich blieb lethargisch fast den ganzen Tag auf dem Boot, benommen, sah hypnotisiert hinüber, sah Fernsehen; ich sprach nur kurz mit anderen auf den Nachbarbooten. Die Welt war wie im Koma. Ich saß auf dem Boot und bewegte mich kaum.
Nachmittags ging ich an anderen Booten vorbei. Eine Familie aus Kanada hatte für ihre Kinder eine kleine Eisenbahn auf dem Bootssteg aufgebaut. Die Kinder liefen mit T-Shirt und Rettungsweste bekleidet auf und ab.
Auch Donnerstag war der Himmel spätsommerblau und wolkenlos. Die Staubwolke zog stadtaufwärts. Bei der Haltestelle des Wassertaxis nach Manhattan sah ich Feuerwehrmänner mit verstaubter Uniform und grauen Schuhen. Liberty State Park war abgesperrt. Mannschaftstranporter standen in einer Reihe, Soldaten mit Hubschraubern, Krankenwagen, die man die ganze Zeit nicht gebraucht hatte, dutzende. Kein Verkehrsflugzeug war in der Luft, nur ab und zu Militärjets, die sinnlos über Manhattan kreisten.
Heiß und sommerlich die Tage, kühl die Nächte. Die Rettungsarbeiten waren kaum hörbar, aber nachts war der ganze Bereich hell erleuchtet. Niemand wußte, ob es nach Wiederaufnahme des Flugbetriebs weitere Anschläge geben würde.
Am Freitag war der Himmel bedeckt, neblig, die Luft kalt. Es regnete. Das Wasser des Hafens war schwarz, die Welt grau, fast ohne Farbe. Immer noch stiegen Staubwolken auf. Später klarte es auf und rot und golden erschien die Stadt bei Sonnenuntergang.
Der Samstag war herbstlich warm. Ich telefonierte mit der Fluggesellschaft, sie bestätigten meinen Flug für Sonntag, wie gebucht und baten darum, etwas früher am Flughafen zu sein. Wir besuchten eine Freundin meines Bruders, gingen am Atlantik spazieren und abends Essen. Auf dem Garden State Parkway fuhren viele Autos mit amerikanischer Flagge. Nachts sah ich bunte Lichter bei dem Club gegenüber der Marina, hörte Musik über das Wasser.
Sonntag, 16. September, gegen Mittag brachte mein Bruder mich zum Flughafen. Im Flugzeug gab es Plastiklöffel, Plastikmesser. Die Gabel allerdings war immer noch aus Metall. Fast pünktlich landete das Flugzeug in Frankfurt.
-> Liberty Landing Marina
-> 11. September 2001 Wikipedia
Zehn Jahre nach der Katastrophe von 2001 möchte ich gerne Erinnerungen sammeln.
Bitte schreibt auf -> Sonderseite: Wo warst Du am 11. September?
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Am Dienstag kam ich vom Buero nach Hause, habe mit meinem Sohn und seiner damaligen Freundin zu Mittag gegessen und wollte danach eine halbe Stunde schlafen. Die Freundin meines Sohnes rief ” mach mal den Fernseher an. Ein Turm der Twin Towers brennt”. Im ersten Moment dachte ich an Orson Welles, dann an ein Unglueck. Als das 2. Flugzeug in den zweiten Turm steuerte, dachte ich “osama bin laden”. Warum? Keine ahnung. Ich war paralysiert, fasziniert und bis spaet abends nicht vom Fernseher wegzubewegen. 1 Jahr zuvor hatte ich nach einer Kreuzfahrt mit meinem Mann noch 5 Tage NY angehaengt, weil ich diese Stadt liebe. Uebernachtet haben wir im Millenium Hilton, 55. Stock, mit direktem Blick auf die Plaza des WTC. Wir sahen jeden Morgen Tausende Menschen in die Twins gehen, weshalb ich bis heute an die in meinen Augen niedrige Zahl der Opfer nicht glauben mag. Am zweiten Abend in NY waren wir in den “windows on the world” essen, obwohl es unverschaemt teuer war. Mein Mann meinte aber, “wer weiss, ob wir die Gelegenheit noch mal haben”.
Monika Schiffer
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